Die Steinzeit gibt es noch
Seit Stunden bewegt sich mein Landcruiser „Wilhelm“ in einem ständigen Auf und Ab durch die Bergwelt des südlichen Äthiopien. Die Pisten sind schlecht, monströse Schlaglöcher oder vom Wasser ausgespülte tiefe und mitunter scharfkantige Rinnen zwingen mich immer wieder im Schrittempo zu „fahren“. Der von mir selbst aufgewirbelte Staub überholt mich, wenn ich an einer steilen Kehre die Fahrtrichtung wechseln muss. Das heißt immer wieder warten, bis ich wieder sehen kann, was die Reifen und die Federung meines Fahrzeugt auf den nächsten Metern auszuhalten haben.
Sechseinhalbtausend Kilometer liegen hinter mir, seit ich vor 64 Tagen in Berlin aufgebrochen bin. Langsam habe ich mich an das Alleinsein gewöhnt. Gott sei Dank, die fatale Einsamkeit in der schier endlosen Sahara habe ich hinter mir. Darüber, dass ich vermehrt mit mir selber rede, mache ich mir keine Gedanken mehr
.
Der Weg führt jetzt stramm westwärts, einen Großteil der Strecke muss ich ihn wieder zurück fahren, will ich wieder auf meine Route in den Süden Afrikas kommen. Ich verdränge lieber, dass die Strecke bis Kapstadt auch zeitlich kaum abzuschätzen ist. Komme ich dort heil an?
Ich bin sehr früh aufgebrochen und versuche nun krampfhaft eine Stelle zu finden, an der ich frühstücken kann. Sobald ich aus meiner Kühlbox etwas zu Essen hervorgekramt habe, rennen Männer oder Frauen oder Kinder oder aber alle zusammen auf mich zu. Also Tomaten und Brot wieder einmal beiseitelegen und weiterfahren. Neue Stelle, schöner Blick, ich habe Hunger. Jetzt dauert es erneut nicht lange, bis einer eine Kalaschnikow hochhält und ebenfalls rennt. Nun erst recht: Einen schnellen Bissen in den Mund, Gas geben und weg. Als ich ihn erreiche, sehe ich, wie ungeschickt er die Kanone über dem Kopf hält und sie mir anpreist. Also keine Panik, er will sie mir nur verkaufen. Aber bitte nein, nicht noch eine. Ich hab schon so viele! Ich beschleunige lieber, denn ich weiß ja nicht, wie gerne er schießt und wie treffsicher er mit dem Ding umgehen kann. Also schreibe ich ein geordnetes Frühstück wie so oft ab. Es ist halt Äthiopien.
Hinter einer Bergkuppe bietet sich plötzlich ein Weitblick, der majestätischer nicht sein kann. Das Navi zeigt 1780 m. Ein geradezu riesiges Tal breitet sich vor mir aus. Eingeschlossen von hohen Bergen ist die gewaltige Talsohle annähernd flach. Sie zeigt weit nach Süden, bis sich der Blick in der endlosen Weite verliert. Laut Karte mündet dieses Gebiet in den schon in Kenia liegenden Lake Turkana. In dem dichten Buschwerk dieser Ebene, mit den einzeln daraus hervorragenden großen Schirmakazien, sind in sehr weiten Abständen Rauchsäulen zu sehen. Hier müssen die Ansiedlungen der Stämme des Flusses Omo sein, der hier eine weite Ebene bildet, bevor er in den schon erwähnten See mündet. „Völkerzoo“ wird dieses von hohen Bergen eingerahmte Tal oft genannt, weil hier auf einem begrenzten Gebiet die meisten menschlichen Ethnien der Erde leben.
Ich bin richtig aufgeregt. Ja, das ist es, was ich in Afrika gesucht habe. Ich steige aus und bin gerührt. Solche landschaftlichen Dimensionen sind in Europa nicht zu finden. Das Gefühl, wirklich weit weg von zu Hause zu sein, erzeugt richtige Glücksmomente.
Ich fahre bis auf 550 m hinunter. Die Landschaft ist atemberaubend schön, aber irrsinnig heiß, mein Thermometer zeigt außen 40,7 Grad. Endlich sind auch wieder einige wenige Menschen zu sehen. Kinder, allesamt völlig nackig, hüten die Herden und haben lange Buschmesser in den Händen, bei denen das Ende gebogen ist wie bei einem arabischen Krumdolch. Männer sind fast alle mit Gewehren bewaffnet. Bei deren Kleidung verschwinden langsam die so beliebten Shirts vom FC Barcelona, Real Madrid oder der äthiopischen Nationalelf. Traditionelle Stoffe, Lendenschurz und viel bunter Schmuck sind Zeichen, durch die sich die einzelnen Stämme der Bume, Karo, Galeb, Bodi, Mursi, Surma, Arbore und Hamer unterscheiden. Körperbemalungen und kunstvolle Vernarbungen der Haut ebenfalls. Zu den exotischsten Stämmen weltweit gehören sicher die Mursi, bei denen die Frauen bis zu 15 cm große Tonteller in die Unterlippen und die Ohrläppchen einsetzen. Gegessen und sicher auch gelacht wird ohne diese doch etwas unpraktischen Schönheitsutensilien. Dann hängen die geweiteten Lippen und Ohren wie eine schrumplige Ziehharmonika am Kopf.
Diesen Stamm will ich besuchen und frage in einer Ansiedlung nach einem Führer, ohne den ich in dieser weiten Landschaft keine Chance habe. Weite 60 km Piste sind es wohl noch bis zu den Dörfern der Mursi. Vorher aber wollen die Verwaltung des Nationalparks, das Tourismusministerium und die regionale Verwaltung ihren Obolus. Ein bewaffneter Scout, der ebenfalls bezahlt werden muss, begleitet mich und den Führer im Auto. Ganze 700 Birr kommen zusammen.
Nach vielen staubigen Kilometern Fahrt stehen nun die Mursi vereinzelt links und rechts der Piste. Besonders die Frauen erkennt man sofort an ihren Tellerlippen. Sie sehen schon seltsam aus. Hörner, Tonkrüge und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs müssen als Schmuck herhalten, hängen irgendwo am Körper oder werden auf dem Kopf balanciert. Das so unentbehrliche Schnellfeuergewehr russischer Bauart, als das mit Abstand modernstem Utensil, darf auch nicht fehlen.
Dann das erste „Dorf“. Keine relativ stabilen Rundhütten, wie ich sie bisher so zahlreich gesehen habe, sondern leichte, aus Stroh geflochtene kleine igluartige Behausungen sind ihre Unterkünfte. Mitten im Busch haben sie ihr Lager aufgeschlagen. Irgendwelche Wege gibt es nicht. Viele großflächige Schwelfeuer qualmen am Boden. Das Bild erinnert mich an ein Museum für Ur- und Frühgeschichte aus meiner Kindheit. Und wirklich, die Steinzeit könnte nicht unkomfortabler sein. Doch auch das ist unsere Welt: Menschen, die seit Tausenden von Jahren völlig unverändert leben. Aber etwas ist doch anders: Das von meinem Führer angekündigte Spektakel geht los. Innerhalb von Sekunden werden wir vom halben Dorf umzingelt. Kinder, Frauen und Männer stellen sich allein oder in Gruppen in Positur und rufen: „Foto, Foto!“ Sie kommen aufdringlich immer näher, zupfen an meinen Sachen. „Five Birr, five Birr!“ ruft es von allen Seiten. Die Kinder brüllen „You, you, you!“. Der Guide rennt mit Packen von kleinen Geldscheinen von Motiv zu Motiv: Eine Person 5 Birr, Mutter mit Kind 7 Birr, Kinder einzeln 3 Birr. Bei Gruppen wird akribisch addiert. Mir ist ganz schlecht, noch kein einziges Foto habe ich gemacht. Doch mir bleibt nichts anderes übrig, als dieses böse Spiel zu akzeptieren, will ich nicht ganz ohne Bilder zurückkehren.
Es ist heiß, es ist staubig, die Feuer stinken und alles klebt am Körper. Meine Hände und Arme fühlen sich vom ständigen Zwacken und Anfassen nicht sehr nett an. Am zartesten sind noch die ganz Kleinen, die vorsichtig ertasten, ob sich die weiße Haut auch so anfühlt wie die ihre. Ständig werden Geldscheine gewechselt. Nach einer guten Stunde hebe ich nur noch die Arme und versuche davonzulaufen. Mein Geld ist alle, das kapiert nur keiner. Immer wieder folgen sie mir. Ich flüchte mit Guide und Scout ins Auto und fahre los. Fast jede der Frauen (die mit den Tontellern), einige der Männer (die mit den meisten Narben) und wenige Kinder stehen mit Packen von kleinen Geldscheinen in der Hand und sehen uns nach ohne zu winken. Sie haben ihr Geschäft gemacht und warten wieder auf ein Fahrzeug. Doch endlich ist dieser Spuk vorbei.
Diese Art von „Tourismus“ sorgt dafür, dass diese Eingeborenen ihre traditionellen Methoden des Überlebens vergessen. Feldbau und Viehhaltung lohnen sich angesichts der neuen Einnahmequellen nicht mehr. Stattdessen hält der Alkohol Einzug in ihr Leben. Bei den anderen Stämmen ist das nicht so ausgeprägt. Ihre Erscheinungsformen sind ebenfalls sehr traditionell, doch bei Weitem nicht so exotisch anzuschauen wie bei den Mursi. Allerdings will der Besucher Extreme sehen, nur das macht den Kick. Letztlich geht es mir nicht viel anders. Jedenfalls erspare ich mir weitere Dörfer von weiteren Stämmen. Die Praxis des Fotogeldes ist fast überall ähnlich belastend.
Ich beschließe stattdessen, am nächsten Tag einen Markt zu besuchen, der mir von meinem Führer empfohlen wurde. Hier kommen die unterschiedlichsten Stämme zusammen, um ihre Handwerksarbeiten, ihr Vieh oder ihr Gemüse zu verkaufen. Vielleicht gelingen mir hier noch ein paar schöne Aufnahmen.
Wieder einmal bin ich früh dran. Zu früh, denn nur langsam füllt sich der Platz, auf dem der traditionelle Markt stattfindet. Hier sollen die vielen Ethnien zusammenkommen, um sich zu versorgen. Ich schlendere über den Platz und halte plötzlich eine Kinderhand. Ein kleiner Junge hat sich meine geschnappt und läuft mit mir, als wenn ich sein Vater wäre. Schnell wird die andere Hand von einem kleinen Mädchen in Beschlag genommen. Ich muss meine Finger spreizen, denn jede Hand wird von einer weiteren Kinderhand festgehalten. Andere Kinder kommen und halten sich an meinen Armen fest. Mit einer großen Traube von Kindern, keiner sagt etwas, laufe ich als einziger Weißer über den Markt. Es ist rührend. Ich gebe eine Runde Bananen aus, doch die können nicht reichen, immer mehr Kinder begleiten mich. Letztlich bleibt mir wie so häufig nur noch die Flucht. Auf dem Weg zum Auto schlägt die Stimmung um, die ungestüme und laute Bettelei geht los. Es wird schon schwierig die Tür zu schließen. Nichts wie weg, natürlich ohne Fotos pittoresker Ethnien.
Und so sind meine Gefühle sehr geteilt. Soll man diesen Menschen ihre Ruhe lassen? Dann muss man sie abschirmen, von der Welt trennen. Das bedeutet Zwang. Oder haben sie ein Recht von den „Segnungen“ der Zivilisation auch etwas abzubekommen? Auch mit der realen Gefahr des Untergangs ihrer traditionellen Kultur und Lebensweise? Ein weiterer Fakt spricht dafür, dass es zu Letzterem kommen wird. Der äthiopische Staat plant am Oberlauf des Omo einen gigantischen Staudamm samt Kraftwerk. Es soll angeblich der größte Afrikas werden. Straßenbaumaschinen in großer Zahl habe ich bereits gesehen. Der damit entstehende riesige See wird das gesamte Territorium nebst dem Klima dramatisch verändern. Und damit ändert sich auch der natürliche Lebensraum des „Museums der Völker“. So, wie es „noch“ ist, wird es nicht bleiben. Die Welt wird dadurch ärmer, Äthiopien dafür an Elektroenergie reicher. Dass das Land diese Energie dringend benötigt, sehe ich an den täglichen Stromsperren. Schade ist es allemal, weil wieder einmal unersetzliche menschliche Vielfalt verschwindet.
Dazu kommt zu allem Übel auch noch der kriegerische Konflikt mit dem Nachbarn Kenia, der bereits im vollen Gange ist. Der Omo ist der einzige natürliche Zufluss zum kenianischen Turkana See, dessen Wasserspiegel schon jetzt dramatisch absinkt. Wieder ein Kampf um Wasser auf dieser Welt. Und der wird sich an vielen Stellen weiter verstärken, je mehr Menschen unseren Planeten bevölkern. Und Äthiopien ist ein Land, das an vorderster Stelle für ein ungebremstes Bevölkerungswachstum sorgt.
Fast eine Woche hat mich dieser „Ausflug“ zum Ursprung unserer Menschheit gedauert. Ich habe ihn nicht bereut. Doch ich habe auch viel nachdenken müssen über das, was ich gesehen habe. Zu einem Ergebnis bin ich doch nicht gekommen.
Jetzt führt mein Weg langsam wieder nach Süden. Dort liegt mein Ziel: Kapstadt - und das ist immer noch weit.