Seit meiner Kindheit war für mich Rio de Janeiro ein Sehnsuchtsziel. Schon in der 8. Klasse suchte ich mir für meine Erdkunde-Jahresarbeit das ferne und so unerreichbare Land Brasilien aus. Das hatte eine Ursache in dem französischen Film „Abenteuer in Rio“ mit Jean Paul Belmondo, der auch in DDR-Kinos gespielt wurde. Ich hatte ihn mir mehr als nur einmal angeschaut. Das Wort „Kult“ kannte ich mit 14 Jahren noch nicht, doch genau dieses Gefühl setzte sich mit dem schönen Namen dieser faszinierenden Stadt in mir ein Leben lang fest. Dennoch sollte es noch 50 Jahre dauern, bis ich endlich am Strand von Copacabana meine Füße in den Sand setzen konnte.
Der März war kalt und ungemütlich in Berlin. Und wie bei vielen Reisen in die Tropen sind die ersten Stunden mit ungewohnter Hitze und Feuchtigkeit für den nordischen Körper ein krasser Gegensatz, besonders, wenn man mit dem Flugzeug anreist. Nachts um ein Uhr hatte man nicht das Gefühl, dass die Menschen hier irgendwann einmal ins Bett gehen würden. Gut, in einer Stadt mit sieben Millionen Menschen gibt es immer genug, die die Nacht zum Tage machen. Im Hotel noch ein Bier, damit man noch mehr schwitzt. Der Schlaf will sich nach langem Flug und dazugehörigem Jetlag nicht einstellen und so macht man sich erst einmal Gedanken über die vorher angelesenen Informationen zu dieser Stadt.
Sieben Millionen Menschen in der unmittelbaren Stadt und 13 Millionen im Großraum Rio de Janeiro sind beeindruckend, aber im Reigen von Mega-Städten wie New York, London, Hongkong, Neu Dehli, Bombay oder Kalkutta, die ich bereits gesehen hatte, nicht ungewöhnlich. Die Mordrate schon, obwohl andere südamerikanische Städte hier wesentlich mehr punkten können. Immerhin ist es besser geworden, von 60 Morden auf 100.000 Einwohner im Jahre 2002 auf heute etwa 18 gesunken – zum Vergleich Deutschland 1. Also kein Grund schlecht zu schlafen.
Copacabana gilt heute immer noch als berühmtester Strand der Welt, auch wenn die Schlagzeilen des Jetsets schon ein paar Jährchen her sind. Viereinhalb Kilometer lang, 400 m breit und besonders am Wochenende ein Zirkus der Eitelkeiten, voll mit bunten Menschen, so wie sie die Welt hervor gebracht hat. Das betrifft die Hautfarben, aber auch den Lebensstil der Cariocas, wie sich die Bewohner Rios nennen. Auffällig jede Menge von gut geschminkten Paradiesvögeln, deren ursprüngliches Geschlecht nur zu vermuten ist, obwohl die im benachbarten Ipanema noch weitaus zahlreicher anzutreffen sind. Schmelztiegel als charakteristisches Attribut passt, ist mir aber etwas zu abgenutzt.
Mich hat es in den vielen Tagen immer wieder hierher gezogen. Zum ersten Mal gleich nach dem Frühstück zeigt sich der Superstrand mit noch sehr wenigen Besuchern, weit verteilt über die riesige gelbe Fläche. Mir kamen die Tränen, dank der Erinnerungen an meine jahrzehntelange Sehnsucht, die mich die Diktatoren der DDR nicht ausleben ließen. Ich ließ mir Zeit mit meinen Gedanken, als ich bemerkte, dass ich von einer schlendernden Gruppe von sechs jungen Männern gemustert und fast unauffällig verfolgt wurde. Es war noch nicht lange her, dass ich in Äthiopien meine Canon-Kamera hergeben musste, also versuchte ich barfuß im weichen Sand sehr schnellen Schritts die Avenida Atlantica zu erreichen, die in dieser Zeit schon etwas belebter war. Ja, aufpassen muss man in der ganzen Welt. Allein und eine Kamera vor dem Bauch hat überall eine magische Anziehungskraft auf Menschen, denen fremdes Eigentum nicht immer heilig ist. Doch der ganze Stadteil Copacabana mit 300.000 Einwohnern wird an vielen Stellen von der Armee bewacht, weshalb die Mordrate hier auch nur gemütliche 2,4 beträgt, was noch weniger ist, als im heimischen Berlin.
Copacabana am späten Nachmittag, möglichst noch an einem Freitag oder Samstag, das ist ein Gewusel, das ich so noch nie beobachten konnte. Was hier vorwiegend dunkelhäutige Händler so alles anschleppen, ist beeindruckend. Die einen mit kleinen tragbaren und bereits brennenden Holzkohlegrills, die anderen mit allem was man darauf braten kann, vom Fisch aller Art bis zu aufgespießtem Fleisch, alles bereits perfekt und südamerikanisch gewürzt. Ein unbeschreiblicher Duft erfüllt den Strand, mein Bauch signalisiert fast schmerzhaften Appetit. Ich begnüge mich mit einem der bunten Coctails auf den unzähligen Tabletts, die auf geschickten Unterarmen von allen Seiten über den weichen Sand jongliert werten. Sie sind phantasievoll garniert mit allen Obstsorten, die brasilianische Tropengärten so hergeben. Aufgefüllt mit von weit herangetragenen Eiswürfeln. Über die Sauberkeit des dazu verwendeten Wassers mache ich mir in meiner Euphorie keine weiteren Gedanken. Ein später noch zu konsumierender Cachaca, dem hochprozentigen Nationalschnaps der Brasilianer aus Zuckerrohr, wird es schon richten. Ich miete mir einen Strandstuhl und genieße es tief in dieses Paradies eingetaucht zu sein. Und vergesse vollkommen die Sonne und mein winterliches Bleichgesicht.
Da ich den Abend in einer Bar des Vergnügungsviertels Lapa verbringen will, fahre ich mit der U-Bahn in eines der Zentren dieser vielgestaltigen Stadt. Der Waggon ist voll und ich mustere die Fahrgäste aller Hautfarben, deren Vorfahren durch königlich portugiesische Kolonialverwaltung und deren planmäßige Besiedlung, Sklaverei und wohl auch Glücksrittertum hierher kamen. Ja auch die indigene Urbevölkerung ist in dem einen oder anderen Gesicht noch zu erkennen. Ich bemerke, dass mich ein junges Mädel anlächelt. Doch irgendetwas stört mich an ihrem Lächeln. Charmant ist es, fast verlegen, aber mit einem nicht zu deutenden Ausdruck in ihren Mundwinkeln.
Erst als ich in einem urigen Bierpub mit fast 100 Sorten meines Lieblingsgetränkes zum ersten Mal auf die Toilette muss, sehe ich mich im Spiegel und verstehe den Gesichtsausdruck der jungen Carioca. Mein Gesicht und meine Oberarme waren durch die ungewohnte Sonne nicht nur dunkelrot geworden, sondern regelrecht lila gefärbt. Es war also ein mitleidiges Lächeln, das signalisierte dass der wohl gerade erst angekommene hellhäutige Trottel nicht aufgepasst hatte. Mein Selbstbewusstsein war also wieder da, wo es meinem Alter entsprechend hingehört. Noch sorgte das Bier dafür, dass ich keine Schmerzen hatte. Das änderte sich erst, als ich mich in fortgeschrittener Stunde mit scheinbar hölzerner Bettdecke niederlegte.
Die Atmosphäre dieser Stadt erinnert mich oft an Afrika, so unbekümmert, fröhlich und etwas verlangsamt sind hier die Menschen. Das gefällt mir außerordentlich. Nur mit ihrer Fußballbegeisterung kann ich nicht so viel anfangen. Trotzdem erlaube ich mir einen Scherz, der als solcher Gott sei Dank nicht verstanden wurde. Bei einer Tagesrundfahrt mit fünf braungebackenen Schönheiten in einem Kleinbus, bei denen ich mit meinem Sakko als Schriftsteller durchging, ohne es selbst behauptet zu haben, war der Eingang des Maracana Stadions ein Programmpunkt. Ich fragte einen der vielen Souvenirverkäufer, ob er neben mir seinen Daumen ins gemeinsame Foto halten würde, währenddessen ich alle Finger einer Hand und von der anderen noch einen Finger dazu, ebenfalls ins Bild hielt. Natürlich war es die Erinnerung an das 7 : 1 bei der WM 2014, das diese Fußballnation so sehr gedemütigt hatte. Der junge Mann schnallte es aber nicht, weshalb ich meinen blöden Einfall anschließend auch nicht mehr bereuen musste.
Wie sehr hier alles mit Fußball in Verbindung steht, konnte ich an einem der folgenden Abende in einer Straßenbar beobachten. Jede Restauration in der Stadt, wie klein auch immer, besitzt mindestens einen Bildschirm, um meist irgend ein regionales Spiel zweier konkurrierender Stadtmannschaften zu zeigen. Wer innen oder draußen auf dem Gehweg auf Hockern saß, konnte das Spiel gut verfolgen. Nur der Fahrer des Stadtbusses saß zu hoch, um einen der Bildschirme erkennen zu können. Direkt neben mir hielt er an, krabbelte akrobatisch aus dem Fenster neben seinem Fahrersitz so, dass nur noch seine Unterschenkel an der Karosserie des Busses verhakt blieben. Mit den Armen stützte er sich nach unten hängend so gekonnt ab, dass er den Torestand an einem der Fernseher erkennen konnte. Sichtlich beruhigt und geschickt zog er sich mit den Beinen zurück in den Bus und fuhr mir zuwinkend einfach weiter. Die Autos hinter ihm mussten warten, ohne hupen und drängeln. Man hat hier Verständnis. Ich blieb wahrlich beeindruckt und mit offenem Mund auf meinem Hocker zurück, was die anderen Gäste amüsiert beobachteten. An diesem Abend blieb ich nicht mehr allein an meinem Tisch. Auch nach den folgenden Runden hatte ich eine Rechnung nun auch nicht mehr zu begleichen. Irre Stadt mit tollen Bewohnern!
Alles, was ich mir in dieser Stadt noch angeschaut hatte, fand nur noch langärmelig und mit Hut statt. Was wiederum dafür sorgte, dass der durchgeschwitzte Stoff auf meinem Sonnenbrand noch mehr schmerzte. Doch was es hier alles zu sehen gibt, lenkt gehörig ab – Menschen, Kunst, Kultur, Architektur und eine atemberaubende Abwechslung von Gebirgs- und Meereslandschaft. Trotz der Hektik einer Großstadt spürt man überall die südamerikanische Lebensfreude, die vieles erträglicher macht, worüber wir bei uns endlos klagen würden. Vor meiner folgenden kleinen Brasilienrundfahrt verbrachte ich hier insgesamt sieben Tage, die ausgereicht haben, mich in diese Stadt zu verlieben wie in nur wenige große Städte auf dieser Welt.