Die Sache mit den Enzymen
Es war der ungewöhnliche Wunsch meines 83-jährigen Vaters, trotz seines Alters noch einmal die asiatische Mega-City Hongkong zu besuchen. New York, Tokyo und viele andere europäische Metropolen hatte er durch Krieg und späteren Beruf bereits gesehen, trotzdem fehlten ihm noch sehr viele herausragende Städte auf diesem Erdball. Viele Orte wären näher und weniger beschwerlich zu erreichen gewesen, aber er hatte sich gerade diese Stadt in den Kopf gesetzt. Es war ihm nicht auszureden.
Und so taten ihm Sohn, Enkel und unser Freund Manfred den Gefallen und setzten sich mit ihm über 16 Stunden lang in ein Flugzeug gen Osten.
Wenn man Stadt mag, macht Honkong Spaß, auch wenn man auf Schritt und Tritt den Machtanspruch der neuen Herrscher zu spüren bekommt. So ganz ohne Wehmut kommt man hier trotzdem nicht aus, denkt man an die britische Kronkolonie zurück. Kaum vorstellbar, dass eine so konsequent in die Höhe gebaute Stadt noch so viel menschelt, weil sie nicht in Gänze auf dem Reißbrett entstanden ist. Die Lage der unzähligen Hochhäuser an der zerklüfteten Küste sucht auf der Welt seinesgleichen. Der Massentourismus, der sich hier durch die Schluchten zwängt, fällt kaum auf. Hongkong lebt zuerst einmal durch das geschäftige Treiben seiner sieben Millionen rastlos erscheinenden Einwohner. Und so lassen wir uns auf diese Stadt ein: ein spektakulärer Hubschrauberrundflug über die hochhausgesäumte Inselwelt des Chinesischen Meeres, die Fahrt mit der (Schweizer) Standseilbahn von 1888 mit einem atemberaubenden Blick vom Victoria Peak auf die Stadt. Diese Aussicht zählt neben Rio de Janeiro, New York und Paris zu den spektakulärsten der Welt. Eine Schiffsfahrt nach Macau, dem ehedem portugiesischen Pendant, mit seinen Spielhöllen, die durch chinesische Investitionen mittlerweile Las Vegas in den Schatten stellen können. Die kulinarischen Köstlichkeiten Südchinas sind lecker und für unsere Verhältnisse nicht wirklich scharf. Wenngleich man etwas aufpassen sollte, um nicht gebratenen Hühnerfüsse, Insekten, Schlangen und andere Seltsamkeiten kredenzt zu bekommen, die unseren Mägen nicht immer gut tun.
An einem Abend beschließen wir, in einer Gegend abseits der Boulevards am Meer zu speisen. Hierher verirren sich nur selten Touristen. Alles sieht improvisierter aus, nicht so sauber und perfekt wie in den Vierteln, in denen sich die Ausländer und die reicheren Hongkonger amüsieren. Wir suchen uns zum Dinner ein recht einfaches Restaurant aus. Es liegt in einer verkehrslosen Gasse hinter einer niedrigen weißen Mauer und unter einem windschiefen Blechdach, gerahmt von verbeultem Maschendrahtzaun. Die schummrige Beleuchtung mit dem so beliebten Licht aus Neonröhren rundet die Atmosphäre perfekt ab. Das Essen auf den Tischen der Leute sieht einigermaßen vertrauenerweckend aus, es riecht auch sehr lecker. Da es uns zu dunkel ist, helfen uns die Besitzer unseren Tisch einfach vor den Eingang zu stellen. Hier ist es heller und vor allen Dingen belebter. Allerdings können wir hier auch von den vielen Vorbeieilenden beobachtet werden. Das machen die nun schon deswegen recht amüsiert, weil wir quasi öffentlich Bier trinken. Uns sind die gereichten Gläser für das chinesische Tsingtao Bier viel zu klein. Wir wollten nicht nur kosten. Es wird noch immer in den alten deutschen Kupferkesseln gebraut, die in der kleinsten Kolonie Deutschlands bis 1914 für meist deutsche Kehlen gebraut wurde. Richtige Halblitergläser haben sie nicht, also bringt man uns größere Gläser, die sonst vielleicht als Blumenvasen gedient haben mögen. Ist aber wiederum unwahrscheinlich, weil Blumen auf diesen alten und wackligen Tischen und dem eher heruntergekommenen Ambiente eher albern aussehen würden. Nach gutem und reichlichem Essen bestellt mein Vater für uns vier Maotai, so ziemlich das einzige, was er aus deutschen Chinaimbissen neben dem Bier an Trinkbarem so kennt. Manche nennen diesen 53%-igen Schnaps aus roter Hirse und Weizen das chinesische Nationalgetränk, was jeder Chinese vehement bestreiten würde. Für so ein starkes Zeug erhält in China kaum einer eine Ausschanklizenz, was in den China-Towns Amerikas und auch bei uns zu Hause genau so ist. Der uns bedienende Besitzer stöhnt ein „Huuuiuuiii“, verrenkt dabei ganz eigenartig seinen Körper, kichert und winkt ab. Hat er also nicht. Doch er hat eine Lösung. Auch ohne ein Wort Englisch erklärt er, dass es um die nächste Ecke einen Shop für Alkohol geben würde. Ich mache mich auf den kurzen Weg und finde einen Eingang, der irgendwie anders als die anderen der vielen Shops aussieht. Ich muss in den zweiten Stock und verlange an einem kleinen Glastresen „Maotai please!“. Die ganze Familie kommt zusammen und kichert. Fein säuberlich stellen sie sechs verschiedene Flaschen unterschiedlicher Größe auf den Tisch. Ich entscheide mich für eine weiße Keramikflasche mittlerer Größe und mit mittlerem Preis.
Meine Mitstreiter freuen sich über meinen erfolgreichen Einkauf. Der Besitzer kommt und gibt wieder sein „Huuuiuuiii“ zum Besten. Trotzdem es nicht sein Umsatz ist, bringt er uns kleine Gläser. Jetzt kommt auch hier seine ganze Familie zusammen. Staunen und Kichern ist die Folge. Sie wollen wohl sehen, ob wir diesen Schnaps einfach so unverdünnt herunter bekommen. Wir tun ihnen den Gefallen. Unser Schnappen nach Luft mit etwas ausladend gestikulierenden Händen und die sogleich folgende Verdünnung mit Bier sorgen für Amüsement. Andere Besucher der Gaststätte haben sich inzwischen von den Plätzen ihrer Tische erhoben, um uns durch den Maschendrahtzaun zu bestaunen. Angesichts der unter Chinesen verbreiteten Alkoholintolleranz nicht zu verwundern. Viele Volksgruppen haben eine mangelnde Produktion bestimmter Enzyme, die den Abbau von Alkohol in der Leber begünstigen. Wir versäumen es selten, immer wieder auf „Germany“ anzustoßen. Man soll schließlich wissen, welches Land derartige „Steher“ hervorgebracht hat (die mit den Enzymen ADH und ALDH).
Noch können wir bemerken, dass uns direkt gegenüber ein Tierladen liegt, der lebende, ausgestopfte und getrocknete Tiere verkauft. Neben dem Eingang steht ein Drahtverhau, in dem süße kleine lebendige Hundewelpen angeboten werden. Weiße Wollknäule drängeln sich auf einem Quadratmeter und warten auf Käufer. Immer mal wieder kommt ein Chinese und nimmt einen mit. Zuerst meinen wir, dass die Kinder der Familien sich über einen neuen Spielgefährten sehr freuen würden. Doch dann wird uns langsam klar, dass diese niedlichen Hundchen ausschließlich für den Kochtopf gekauft werden. Hongkong ist Südchina und man isst hier „alles was vier Beine hat außer einem Stuhl“. Wir gruseln uns ein wenig im Angesicht solcher Speisetraditionen. Gott sei Dank haben wir bereits gegessen (?). Ein neuerlicher Maotai wird nun zum Muß.
Leider währt ein solch hochprozentiger Abend nicht allzu lange. Trotz Enzymen beginnen wir recht bald zu schwächeln. Und schließlich müssen wir den Heimweg zum Hotel noch finden.